Das „beste Buch über das Schreiben“

Storytelling-Geheimnisse aus George Saunders‘ »Bei Regen in einem Teich schwimmen«.

Rezension von Bernd Friedrich von Schon

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Was kannst Du erwarten von einem Schreibratgeber, der von namhaften Autor:innen in höchsten Tönen gelobt wird? Über den niemand geringeres als Doris Dörrie schreibt, er sei „unverzichtbar für alle, die gern lesen und schreiben“, was Daniel Kehlmann noch überbietet: Das Buch sei „das beste Buch über das Schreiben, das er jemals gelesen habe“.

Mir war vor der Lektüre von George Saunders‘ Bei Regen in einem Teich schwimmen {*} bang zumute: Würde das Buch halten, was andere von ihm versprechen?

Was will Saunders uns lehren?

Erkenne die Welt und vertraue Dir

Saunders will uns Literatur als ein Mittel zum unbefangenen Erkennen von Menschen und Welt nahebringen. Ihm zufolge erweitert Literatur sanft und unterhaltsam unseren Horizont. Für Saunders ist Schreiben und Lesen stets Welt- und Seelenerkundungsreise, eine Übung in Empathie und Achtsamkeit.

Darüber hinaus möchte Saunders Dir grundsätzliches Vertrauen in Deinen Geschmack verleihen, Vertrauen in Deinen Schreibprozess und Vertrauen in Dich selbst als angehende:r Schriftsteller:in.

Hierzu arbeitet er aus den (seiner Meinung nach) besten sieben Kurzgeschichten vier russischer Meistererzähler – Tolstoi, Tschechow, Turgenjew und Gogol –, gültige Prinzipien guten Erzählens heraus.

Wer ist dieser George Saunders überhaupt?

Meister seines Fachs

George Saunders hat über zwanzig Jahre angehende Schriftsteller:innen im Kreativen Schreiben unterwiesen, er lehrt an der Syracuse University, New York.

Überdies ist er nicht allein Schreib-Theoretiker und -Didaktiker, sondern auch -Praktiker. So legte er nach mehreren Kurzgeschichten seinen ersten Roman vor, der schnell zum Bestseller avancierte – Lincoln im Bardo {*}.

Über diesen schrieb der Rolling Stone, es sei ein „überaus originelles, eigenwilliges Buch, in dem sich das Komische und das tief Berührende, das Absurde und das Menschliche auf magische Weise die Waage halten.“

Mit Saunders haben wir also zweifellos einen Meister seines Fachs vor uns.

Wenn ein solcher sich mit Kurzgeschichten von vieren der größten Schriftstellern aller Zeiten auseinandersetzt, um Erkenntnisse über das Schreiben zutage zu fördern, wird es spannend.

Was hat Saunders uns grundsätzlich zu sagen?

So und nicht anders!

Erst einmal zeigt sich Saunders skeptisch gegenüber Regelwerken, die mit überbordendem Selbstbewusstsein daherkommen und sagen: So geht es und nicht anders. Als »Weisheit letzter Schluss« will er sein Buch folglich nicht missverstanden wissen.

Woher rührt Saunders‘ Skepsis gegenüber eindeutigen Erzähl-Regeln?

Offenbar aus seiner Sicht auf die Welt und die Literatur.

Keine letztgültigen Sicherheiten

Saunders zufolge ist das, was wir zu wissen glauben, immer lücken- und fehlerhaft, nur vorläufig, noch nicht der Weisheit letzter Schluss, immer nur Teilstück des Puzzles.

Er spricht Tolstoi die „Empathie eines Heiligen“ zu, weil er verschiedene Figurenperspektiven gegeneinandersetzt, die sich widersprechen, Tolstoi sich eines Urteils über ihre jeweilige Richtigkeit, Wahrheit oder Vollständigkeit aber enthält.

Guter Literatur sollte es Saunders darum zu tun sein, unserem stets nur lücken- und zerrbildhaften Blick auf die Wirklichkeit Genüge zu tun, indem wir nicht unsere Meinung vermittels unserer Geschichte darzulegen suchen, sondern vielmehr Attitüden, Blickwinkel und Stellungnahmen wirkungsvoll kontrastieren.

Da uns Saunders zufolge große Literatur diese Lückenhaftigkeit unserer Welterkenntnis vor Augen stellt, wird sie zu etwas Wunderbarem: Sie spürt weiße Flecke auf der Landkarte unseres Weltbilds auf, lehrt uns, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt, dass es lohnt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und unseren Mitmenschen aufgeschlossen und zugewandt zuzuhören.

Daraus folgt für ihn:

Jede Erzählung, die moralische Schwächen aufweist (die also sexistisch, rassistisch, homophob, transphob, pedantisch, aneignend, plagiiert wirkt und so weiter), wird sich, wenn wir ausreichend analytisch herumschnüffeln, als handwerklich fehlerhaft herausstellen, und wenn diese Fehler behoben werden, wird sie auch (immer) eine bessere Erzählung.

George Saunders

Literatur vertrage, so Saunders, Meinungsstücke nicht gut. Er empfiehlt angehenden Autor:innen:

»Halte deine Meinung besser aus der Story heraus.«

Ungeachtet seiner Skepsis gegenüber Regelwerken und letztgültigen Überzeugungen hat Saunders also doch selbst eine klare Haltung bezüglich dessen, was eine gute, vielleicht sogar große Erzählung ausmacht.

Überdies schält Saunders aus den sieben Meistererzählungen noch weitere Prinzipien guten Storytellings heraus.

Was Du von Saunders lernst:

  • Was eine gute Erzählung ausmacht
  • Wie Du achtsam liest und dies Dir hilft, ein:e bessere:r Erzähler:in zu werden,
  • Wie Du Figuren erschaffst, die sich entwickeln,
  • Wie Dein Erzählen folgerichtig wird und sich steigert,
  • Wie Du jedes Detail Deiner Story mit Bedeutung auflädst,
  • Wie Du effizient erzählst,
  • Wie Dir das Merkwürdige dazu dient, wahrhaftig zu erzählen,
  • Wie Dein Schreiben zu einem befriedigenden Finale führt.

Selbstverständlich kann ich sämtliche Einsichten, die Saunders vermittelt, hier nicht in toto darstellen. Ich werde mich aber bemühen, seine wichtigsten Erkenntnisse herauszuarbeiten.

Was charakterisiert Saunders zufolge über das bereits Gesagte hinaus eine gute Geschichte noch?

Geschichten als »Black Boxes«

En bref: Eine gute Geschichte verändert (mindestens) eine Figur und Dich mit ihr.

Saunders zufolge ist das Geringste, was eine Geschichte leisten sollte: Sie soll mindestens einmal unseren Gemütszustand verändern.

“Eine Erzählung ist eine Black Box, ihre Leserin geht in einem Gemütszustand hinein und kommt mit einem anderen wieder heraus. Was in dieser »Black Box« geschieht, soll aufregend und nicht trivial sein.“

Eine Geschichte soll unsere Empfindung intensivieren, wir sollen das Gefühl haben, etwas Bedeutsames durch sie zu erleben.

Solcherlei »Bedeutsames Erleben« ist meist »Miterleben von Bedeutsamem«, will sagen: Es geschieht über Identifikation mit einer oder mehreren Figuren, an deren Schicksal(-en) wir teilhaben.

Entsprechend heißt es in Saunders’ Schreibwerkstatt, “damit ein Text zu einer richtigen Geschichte wird, muss darin etwas passieren, was das Leben einer Figur für immer verändert.”

Zwischen dem “Es war einmal …” des Märchens und dem “… und wenn sie nicht gestorben sind, …” findet sich folglich ein Moment starker, irreversibler Veränderung.

Wie aber lernst Du nun, Momente bedeutsamer Veränderung zu guten Storys zu verarbeiten?

Saunders empfiehlt: Übe Dich im Studium der Meister:innen und lerne von ihnen.

So ist Bei Regen in einem Teich schwimmen {*} stets auch ein Kurs in achtsamem Lesen.

Lese achtsam, Seite um Seite …

Schulen kannst Du solch genaues, lehrreiches Lesen mit Saunders‘ Seite-um-Seite-Übung: Ehe Du nach der ersten Seite einer Erzählung weiterliest, halte inne und frage Dich:

  • Was macht Dich neugierig?
  • Was für eine Erzählung will diese Erzählung wohl sein?
  • Wo geht die Geschichte hin? Was geschieht wohl als nächstes?
  • Wie wird die Geschichte enden?

Schreibe auf:

  1. Was weißt Du bisher (über Schauplatz, Figuren, Handlung, …)?
  2. Was macht Dich neugierig?
  3. Wohin will Deiner Meinung nach die Erzählung?

Überdies:

  • Liste auf, was geschehen könnte.
  • Welcher Fortgang würde Dich enttäuschen?
  • Welche Entwicklung (der Figuren, der Handlung, der Tonalität, des Stils, …) wäre unpassend?

Zuletzt:

  • Fasse das, worum es geht, in möglichst nur einem Satz zusammen.

Durch diese Übung lernst Du, wohin eine Story Deine Aufmerksamkeit lenkt.

Eine zweite Übung, die Saunders empfiehlt:

… und schneide das Ende ab!

Wähle eine Stelle gegen Ende einer Erzählung, schneide sie ab – mit einer Schere oder imaginär, das sei Deinem Gusto überlassen – und frage Dich: Ist das schon eine Erzählung? Was fehlt?

Durch diese Übung lernst Du, welche angesponnenen Fäden getrost liegen gelassen werden können und welche nach einem Zu-Ende-Geknüpftwerden verlangen und infolgedessen: Wie gelungene, befriedigende Enden gestaltet sein sollten.

Beiden Übungen ist es darum zu tun, die Mittel zu erkunden, wie eine gelungene Erzählung vorgeht.  

Welche weiteren …

Prinzipien guten Erzählens

… hat Saunders durch achtsames Lesen noch zutage gefördert?

Zunächst einmal gelte, dass Erzählungen »Probleme« verhandeln, Probleme, die Menschen im Weg stehen und an denen sie wachsen, die sie lösen oder an denen sie scheitern werden.

Eine Geschichte mit einem Problem ist wie ein Mensch mit einem Problem: interessant

George Saunders

Andere Lehrende der Dramaturgie sprechen hier von einem »Mangel« oder einer »Störung«, den beziehungsweise die eine Hauptfigur beheben muss oder einen »Konflikt«, in den die Handlung sie stürzt.

Um einer Figur ein Problem in den Weg stellen zu können, müssen wir die Figur zunächst aber erst einmal kreieren.

Erschaffe eine Figur aus einem »Fragment« Deiner selbst

Um eine Figur zu erschaffen, „exportieren wir“, laut Saunders, „Fragmente von uns selbst, dann verpassen wir diesen Fragmenten Hosen und eine Frisur und eine Heimatstadt und all das.“

Was meint Saunders nun mit solch einem »Fragment« unserer selbst?

„Meistens“, so der Schriftsteller, „identifizieren wir uns mit bestimmten Meinungen und schätzen die Welt von dieser Warte aus ein. Unser inneres Orchester hat die Anweisung, dass bestimmte Instrumente dominieren sollen, andere sollen leise spielen oder überhaupt nicht. Wenn wir schreiben, bekommen wir die Chance, die Mischung zu verändern. Heisere Instrumente werden nach vorn gebeten, unsere üblicherweise trompetenden Überzeugungen sollen still dasitzen, die Tröten auf dem Schoß. Das ist gut; es erinnert uns daran, dass die leiseren Instrumente die ganze Zeit auch da waren.“

Was Saunders hier bildhaft ausmalt, hat der Büchner-Preisträger Clemens J. Setz in einem Interview ähnlich ausgedrückt. Er sprach von separaten »Extra-Gehirnen«, die wir anstatt unseres gewohnten Denkorgans auf Erkundungsreise in die Welt schicken.

Beide Schriftsteller empfehlen also, einen bestimmten Wesenszug, eine bestimmte Attitüde oder Überzeugung, dem bzw. der wir im Alltag weniger Raum geben, zur Hand zu nehmen und sie zum zentralen Wesenskern unserer Figur zu machen, ganz nach dem Was-wäre, wenn-Prinzip.

Eine Eigenschaft als Knetmasse zum Modellieren einer Figur zur Hand zu nehmen, dies erinnert an Will Storrs »Theory of Control« aus dessen Science of Storytelling {*}, die ich in meiner Rezension des Buchs erläutert habe: Bei ihr handelt es sich um eine zentrale Überzeugung, von der die Figur glaubt, durch sie könne sie unter Menschen klar- und vorankommen.

Von der Figur zur Erzählung – Eigenschaft trifft Widrigkeit

Um nun von der Figur aus zu einer Story zu gelangen, muss Eigenschaft auf Widrigkeit treffen.

Saunders schreibt: „Sobald unser Strichmännchen mit einer charakteristischen Eigenschaft ausgestattet ist, macht sich die Erzählung daran, diese Eigenschaft auf die Probe zu stellen.“

Auch dies erinnert wiederum an Will Storrs Science of Storytelling {*}, derzufolge der Plot dazu da ist, um zu prüfen, ob eine bestimmte „Theory of Control“, als „Methode, unter Menschen klar- und voranzukommen“, erfolgreich sein kann.

Bei Saunders geht es auch darum, einen Wesenszug in allen denkbaren Vorzügen und Nachteilen durch eine Geschichte in vielerlei Facetten zu bespiegeln.  So entwickelt sich eine fortschreitende Figurenzeichnung.

Zwar empfahl Saunders:

»Halte Deine Meinung aus der Erzählung heraus.«

Dessen ungeachtet rät er ebenso:

»Frage Dich, wie Du Überzeugungen nutzen kannst.«

In der Erzählung Die Stachelbeeren (1898) schreibt Tschechow einer seiner Figuren durchaus eine starke Meinung zu – unterläuft sie aber, indem er zeigt, dass sie ihrem eigenen Anspruch bzw. dem der Lesenden nicht genügt.  

So, erklärt Saunders, erzielt „Tschechow (…) beides: die Wucht einer leidenschaftlichen Meinung (deren Wahrhaftigkeit wir spüren) und ihre Erschütterung, indem er sie Iwan zuschreibt (dessen Schwachstellen wir bemerken).“

In Leo Tolstois Aljoscha der Topf (1911) scheint die Haltung des »freudigen Gehorsams« der einfältigen Titelfigur zunächst ein angenehmes Dasein zu bescheren, als dieser ihm aber auch der Liebe im Wege steht, weckt sie mehr und mehr unsere Skepsis.

Einerseits, ließe sich sagen, plädiert die Erzählung für freudigen Gehorsam, andererseits dafür, dass freudiger Gehorsam nur allzu gern ausgenutzt wird.

Saunders schreibt: „Das Wunder dieser Erzählung liegt darin, die Antwort auf diese Frage zu verweigern oder vielmehr, sie erfolgreich zugunsten beider Perspektiven gleichzeitig zu beantworten. (…) Die Erzählung, das sind genau diese beiden koexistierenden Interpretationen, die bis in alle Ewigkeit freudig miteinander ringen.“

Die Beispiele zeigen, wie aus einer Eigenschaft eine Figur erwächst und, indem sie auf Widrigkeiten trifft, sich eine Erzählung entspinnt, die Meinungen verhandelt, ohne ihren Lesenden eine eindeutige und allein gültige Haltung aufzudrängen.

Bei der Figurenzeichnung (und ganz generell) gilt:

Sei spezifisch!

Denn gut beobachtete, abgelauschte, erschnupperte und gespürte Details, in eine Erzählung eingewoben, helfen, Lesenden eine bunte, abwechslungsreich duftende, singende, klingende Welt vor Augen zu malen. Wir Menschen scheinen von sprechenden Fakten besessen zu sein.

Anhand von Anton Tschechows Kurzgeschichte Auf dem Wagen (1897) zeigt Saunders, wie die Hauptfigur Marija durch „zunehmende Spezifizierung“ die Möglichkeit für „bedeutsame Handlung“ erhöht.

Grundsätzlich gilt: Je genauer Du eine Figur zeichnest, desto plastischer steht sie Deinen Leser:innen vor Augen. So eröffnest Du ihnen Möglichkeiten für Interesse und Anteilnahme.

Das bedeutet aber nicht, dass Du Deine Leser:innen mit einer üppigen Liste Details langweilen solltest. Wo aber spezifisch sein und wo allgemein bleiben in der Figurenzeichnung?

Es verhält sich so: Sobald Deine Figur die Bühne Deiner Story betritt, erwarten Deine Leser:innen etwas von ihr. Je mehr sie von ihr kennenlernen, desto genauer werden ihre Erwartungen.

Gute Erzählungen beginnen mit Auftritt der Figur ein dialektisches Spiel: Erwartungen werden gelenkt und bestätigt, ihnen wird aber auch widersprochen. Und aus diesem Spiel von Erwartungserfüllung und Erwartungsbruch entsteht peu à peu eine lebensechte Gestalt.

Denn: Ist Deine Figur einseitig, wirkt sie platt, Deine Erzählung bleibt trivial. Widersprüche in Deinen Figuren mehren aber ihre Glaubwürdigkeit und mit ihnen die »Wahrheit« Deiner Erzählung.

Wie geht dieses Spiel von Erwartungserfüllung und Erwartungsbruch mit der Veränderung sowohl Deiner Figur als auch Deiner Leser:innen zusammen?

Tschechows Wagen-Geschichte erzählt davon, dass ihre Hauptfigur Marija einsam ist. Dies weckt Erwartungen an Fortgang und Genre: Wird Marija einsam bleiben? Lesen wir eine Liebesgeschichte?

Marijas Einsamkeit weckt unser Mitgefühl. Niemand ist gern allein. Und auch Marija hat es nicht verdient, einsam zu sein. Sie wird uns sympathisch. Dann aber zeigt uns Tschechow Eigenschaften an Marija, die wir nicht mögen können. Diese ihre Unvollkommenheiten steigern aber nurmehr unseren Zugang zu der Figur.

Saunders formuliert: Marija „ist nicht: ein vollkommener Mensch und einsam. Sie ist: ein unvollkommener Mensch und einsam. Wir empfinden Mitleid mit der einsamen unvollkommenen Marija, so wie mit einem unvollkommenen einsamen Menschen, den wir geliebt haben, oder mit dem unvollkommenen (einsamen) Menschen, der wir selbst sind.”

Interessanterweise vertritt Saunders hier eine ganz ähnliche Ansicht wie Aristoteles, der in seiner altehrwürdigen Poetik {*} die Auffassung vertritt, dass weder der unbescholtene, strahlende Held noch ein Schurke Hauptfigur der Tragödie werden sollte, sondern jemand, den wir mögen können, dem aber ein tragischer Fehltritt unterläuft.

Zurück zu Saunders Tschechow-Lektüre:

Sobald Marija auf Chanow trifft, spezifiziert sich die Leser:innen-Erwartung: Ist Chanow ein möglicher Liebhaber? Ist ihrer beider Geschichte ein klassisches meet cute? Wird es ein happy end geben?

Das bedeutet, dass Lesende nicht nur Erwartungen an die Figuren haben, sondern auch über die Art und den Fortgang des Plots spekulieren.

Scheue Dich nicht, Story-Muster zu verwenden

Diesen Erwartungen an Typ und Fortgang Deiner Story kannst Du nicht entrinnen. Lesende rechnen mit Wiederholung und Variation und freuen sich in aller Regel, wenn sich überraschende Wendungen einstellen. Scheue Dich daher nicht, etablierte Muster zu verwenden, nutze sie aber klug und variiere sie originell.

Am Beispiel von Tschechows Kurzgeschichte Herzchen (1899) zeigt Saunders, wie anhand eines wiederkehrenden Musters (Hauptfigur Olenka verliebt sich, passt sich ihrem Geliebten an, die Liebe endet, sie verliebt sich neu, passt sich abermals an usf.…) Erwartungen erzeugt, gelenkt und gebrochen werden: Das wiederholend-variierende Muster zwingt Lesende, die Liebes-Episoden miteinander zu vergleichen, was genau im Sinne der Story ist.

Die raison d’être der Erzählung

In Tschechows Auf dem Wagen wird zuletzt klar, dass die Sehnsucht der Hauptfigur Marija nach einem Ende ihrer Einsamkeit – und mit ihr die Sehnsucht der Leser:innen – unerfüllt bleiben wird.

Aber Tschechow schenkt seiner Figur einen kurzen Moment von Kraft und Selbstvertrauen, der eine mögliche Veränderung andeutet. Wir wünschen Marija, dass sie von Einsamkeit zu Stärke finden wird.

Die Quintessenz der Erzählung ist nicht spektakulär. Im Wesentlichen lautet sie: „Ja, so ist es auf der Welt.“ Dennoch haben wir Marija und ihr Problem kennengelernt, sie ein Stück ihres Weges begleitet und ihr Schicksal hat uns gerührt. Und das ist genug.

Saunders zufolge hat Tschechow einmal gesagt:

Kunst muss keine Probleme lösen. Sie muss sie nur richtig formulieren.

Anton Tschechow

“Richtig formulieren” kann man verstehen als “uns ein Problem voll und ganz spüren lassen, ohne irgendeinen Anteil davon zu leugnen.”

Gute Geschichten streben Saunders zufolge diese Wahrhaftigkeit an: Wenn Menschen auf Schwierigkeiten treffen, ist dies niemals eindimensional, meist gibt es für uns keine bequemen, allzu einfachen Lösungen und dennoch erleben wir Momente des Triumphs, des Glücks, von Kraft und Hoffnung.

Um eine Geschichte stringent, elegant und wirkungsvoll zu erzählen, empfiehlt Saunders, alles Überflüssige an ihr wegzulassen, was sich zu der Aufforderung verdichtet:

Sei brutal effizient!

Saunders zufolge ist die Erzählung in puncto »Effizienz« ein „brutales Genre”.

Was meint er damit?

Eine Kernfrage, die sich Deine Leser:innen beim Lesen Deiner Story stellen, ist: »Wie effizient ist diese Geschichte erzählt?«

Leser:innen verzeihen Dir Abschweifungen und ausschmückende Details nur dann, wenn sie im Gesamtgefüge des Erzählgeflechts von Bedeutung sind.

“Wie ein besessener Detektiv interpretiert der lesende Geist jedes neu hinzukommende Stück Text in dieser Hinsicht, an viel anderem ist er nicht interessiert”, so George Saunders

Nach Lektüre einer Erzählung schauen wir, was uns innerhalb ihrer unweigerlich auffiel, wozu die (auf-)gelesenen Elemente nütze waren. Schlecht für ein Element, wenn es als unnütz für die Erzählung erachtet wird. Dies meint Saunders mit „brutaler Effizienz“.

Infolge der Empfehlung, Schreibende täten gut daran, schnörkellos auf das Herzstück ihrer Erzählung zuzuarbeiten, formuliert Saunders zwei Merksätze:

  • „Lass nichts ohne Grund passieren“ und
  • „Wenn Du etwas hast passieren lassen, verleih‘ ihm einen Sinn“.

Letzteres heißt nicht mehr oder weniger, als dass das Element eine Funktion für die Erzählung hatte, bspw. Figurenzeichnung, Exposition eines Konflikts, Atmosphäre, foreshadowing, Spannungsaufbau …

Um die »Effizienz« Deiner Story beurteilen zu können, wollen Deine Leser:innen herausarbeiten, was ihr »Herzstück« ist, ihre raison d’être.

Dieses Herzstück muss jede:r individuelle:r Autor:in selbst finden, es ist die bedeutsame Einsicht, die Lesenden zuteilwird, die aber so unspektakulär sein kann, wie das obige „Ja, so ist es auf der Welt“, d.h. wenn sie einen berührenden Moment von Wahrhaftigkeit mit einer Figur (mit-)erleben.

Der übergeordnete Sinn einer Erzählung liegt auch nicht unbedingt darin, so Saunders, worauf sie hinausläuft, sondern stattdessen, wie sie vorgeht. Kunst ist eben, zumal wenn sie gut ist, meist ein spannungsvoller Balanceakt von Form und Inhalt.

Das Wahre ist das Merkwürdige

Fakten, Detailtreue und Wahrhaftigkeit – auch im Sinne einer Demut, die anerkennt, dass die eigene Überzeugung womöglich nicht der Weisheit letzter Schluss ist – wurden hier bereits als unabdingbare Zutaten guter Erzählungen ausgemacht.

Anhand von Nikolai Gogols Die Nase (1836), der absonderlichen Geschichte des Kollegienassessors Kowaljow, dem unversehens seine Nase abhandenkommt und er sie wenig später in der Uniform eines Staatsrats in Sankt Petersburg herumspazieren sieht, illustriert Saunders, dass durchaus auch das Merkwürdige wahrhaftig sein kann. Deutlich wird an dieser Geschichte der o.g. Grundsatz, dass es oftmals das Wie der Erzählung ist, das ihre Bedeutung ausmacht.

Einerseits beschreibt Gogol akkurat, was vor sich geht, sodass er sich zunächst das Vertrauen der Lesenden erarbeitet. Nun sind es aber aberwitzige Vorgänge in einer kruden Logik, die sein Ich-Erzähler schildert. Überdies erweist sich dieser Ich-Erzähler als überheblicher, ruhmrediger, einfältiger, schräger Typ. Indem er »unzuverlässig«-subjektiv erzählt, bestätigt er Saunders Ansatz, dass unsere Sicht stets eingeschränkt, lücken- und fehlerhaft, verzerrt ist, überspitzt ihn gar ins Groteske. Die Literaturwissenschaft nennt den Stil, vermittels eines solcherlei unzuverlässigen Ich-Erzählers zu erzählen, »skaz«.

Saunders verpflichtet angehende Autor:innen also nicht auf eine Wahrhaftigkeit im Sinne eines Realismus (der selbst eine Konstruktion darstellt), sondern goutiert eine Ehrlichkeit der Empfindung und des Verständnisses, die sich in der Fiktion auch in Form des Kruden, Schrägen und Absurden kundtun kann.

Vertraue Dir und vertraue dem Prozess

Zuletzt ist Saunders Bei Regen in einem Teich schwimmen {*} auch daran gelegen, angehende Schriftsteller:innen zu ermutigen, auf ihre Fertigkeiten und den Prozess des Schreibens zu vertrauen.

Eine Erzählung gelinge nun einmal nicht aus einer Position der Kontrolle, aus perfekter Meisterschaft heraus, sondern bedarf des Muts, loszulegen, Fehler zu machen, aus ihnen zu lernen und der eigenen Intuition zu vertrauen.

Ebenso wenig wie ein Gespräch folge auch das Entstehen eines Kunstwerks einem Plan.

Der Autor ist einer, der mit seiner Aufgabe anfängt, ohne zu wissen wie.

Donald Barthelme

Saunders verweist auf Hemingway, demzufolge jede:r Schreibende einen „eingebauten, stoßfesten Schrottsensor“ habe, der „durch Lesen und Schreiben“ nurmehr weiter „verfeinert und geschärft“ werde.

Im Prinzip müssten wir lediglich „die Stimme“ einer Erzählung finden und versuchen, „sie stabil zu halten“, während wir sie mit sich steigernden Zumutungen konfrontieren.

Dazu schreibt Saunders: „Es klingt irgendwie verrückt. aber nach meiner Erfahrung war’s das schon, das ganze Spiel: 1) mich davon überzeugen, dass es in mir eine Stimme gibt, die wirklich genau weiß, was ihr gefällt, und 2) trainieren, diese Stimme besser zu hören und in ihrem Sinne handeln zu können.“

Zuletzt bedarf es dann noch eines Quäntchens Kühnheit.

Gute Geschichten imponieren uns oftmals deshalb, weil sie entschieden ihren Weg gehen, über krude Setzungen und kühne Ellipsen hinweg. Diese Risikobereitschaft gilt es zu kultivieren.

Mein Fazit: Das beste Buch über das Schreiben?

George Saunders‘ Bei Regen in einem Teich schwimmen {*} lohnt meines Erachtens die Lektüre, Schreibende werden zweifelsohne von ihr profitieren. Sein Verständnis von Kunst und Kunstwert finde ich überzeugend, etliche seiner Ratschläge erachte ich als wertvoll.

Nicht von ungefähr sind es wohl aber vornehmlich Autor:innen von Prosa, die die Schrift über den grünen Klee loben. Theater-, Film- und Fernsehschreibende haben aber oftmals gar keine andere Wahl, als sich vorab einen Handlungsplan anzufertigen und diesem zu folgen, anstelle einer inneren „Stimme“ zu lauschen und diese „stabil zu halten“, wie Saunders es empfiehlt.

Nichtsdestoweniger hält Saunders‘ Buch auch für sie erhellende Einsichten bereit, viele seiner Lektionen sind universell anwendbar auf jedwede Art fiktionalen Schreibens und Figuren- und Plot-Entwickelns.

In Summe halte ich Saunders Plädoyer des Schreibens und Lesens als eine Übung in Empathie und Achtsamkeit für eine kaum verzichtbare Lektüre für alle Story-Kreierende, sodass ich sagen kann: Meine Sorge, vom Lesen des doch umfänglichen Buchs enttäuscht zu werden, wich dem angenehmen Prickeln, Neues, Erhellendes und Wertvolles über Handwerk und Kunst des Erzählens zu erfahren.

Es wünscht Euch, geneigten Leser:innen, wie stets nur das Beste.

Euer

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