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Überlebenstechnik Innovation
Kennt Ihr jemanden, der Stillstand liebt, der das Gewohnte und Gewöhnliche dem Neuen vorzieht? Ich jedenfalls kenne solcherart niemanden.
Wir Menschen sind eine anspruchsvolle Spezies, wir brauchen Veränderung wie Luft zum Atmen, uns fasziniert das Neue, wir wollen immerzu etwas verbessern und wir sehnen uns nach dem Noch-nie-Dagewesenen.
Storyteller:innen, die unserer Neugier nicht nachkommen, werden uns eher früher als später als Publikum verlieren. Wir sehen es auf jeder Party: Es gibt jene, die sich bis zuletzt an ihrem Drink festhalten, dankbar für jede Aufmerksamkeit sind, jene bedauernswerten Langweiler:innen, denen dann auch noch die Pointe ihres Witzes misslingt. Und es gibt jene, um die sich Menschentrauben bilden, die ihre Gesprächspartner:innen fesseln, begeistern und von denen lange nach der Feier noch immer die Rede ist.
Das Gute: Niemand muss ein:e Langweiler:in bleiben. Er oder sie versuche es mit un peu Schonôlogie.
In meinem vorausgegangenen Artikel ging es darum, Morde zu planen, um spannende Krimis zu entwickeln, um Grundlagen ästhetischer Verbrechen. Aus Euren Rückmeldungen zu meinem Blogpost wurde mir klar, Euch, geschätzte Leser:innenschaft, treibt die Frage um: Wie mordet’s sich nicht allein spannend und verblüffend, sondern überdies anspruchsvoll und innovativ?
Mit diesem Artikel möchte ich Eure Fragen beantworten und dabei helfen, erfolgreich zu innovieren. Der zu innovierende Gegenstand ist hier das Verbrechen, seine Aufklärung und das Erzählen davon. Dessen ungeachtet sind die schonologischen Innovationsmethoden auch auf andere Bereiche anwendbar.
Was ist Innovation?
Innovation bedeutet »verbessernde Erneuerung«. Diese kann peu à peu vorgehen oder das Dagewesene radikal infrage stellen. Entsprechend wird unterschieden inkrementelle, also schrittweise, evolutionäre Verbesserung und disruptive Innovation, schlagartige, tiefgreifende, revolutionäre Erneuerung.
Wenn einige von Euch nun verzagen angesichts der herkulischen Herausforderung, wertvolle Neuerung zu bewerkstelligen, entspannt Euch bitte erst einmal. Denn:
»Innovation ist unvermeidlich«
Bernd Friedrich von Schon, Schonology
Da sich Zeitgeist, Weltanschauung, Menschenbild, Technologie und Medien unentwegt wandeln, stellen sich Innovationen quasi wie von selbst ein. Sie sind gar nicht zu vermeiden. Wie gehen wir also vor, wenn wir bewusst innovieren wollen?
Es gibt verschiedene Methoden, die versuchen, den Innovationsprozess zu systematisieren – wie beispielsweise Design Thinking, TRIZ, Kaizen, Scrum oder Triangulation. All diese Methoden haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt, der zu folgendem Rat führt:
»Heißt Probleme willkommen«
Begrüßt Probleme, denn sie sind der Startpunkt jeglicher Innovation. Der Ursprung jedweder verbessernden Erneuerung liegt in Problemen, die noch ungelöst sind oder bislang nur unzureichend gelöst wurden.
Nur müssen Probleme erst einmal entdeckt werden.
Um unser innovationslustiges Problembewusstsein wachzuküssen, es zu schulen, auf unseren Gegenstand anzuwenden und das Neue und Bessere zu erschaffen, gehen wir in vier Schritten vor. Wir widmen uns nacheinander: 1. dem Status Quo, 2. dem Kontext und 3. uns selbst – um im 4. Schritt die Zukunft zu erschaffen.
- Status Quo
Zunächst betrachten wir den Status Quo des zu innovierenden Gegenstands – bei uns: den Krimi. Bei diesem ersten Schritt der Status-Quo-Evaluation ist es sinnvoll, den Gegenstand zu beschreiben, sich zu fragen, aus welchen Elementen er aufgebaut ist und welche Funktionen sie wie erfüllen.
Welche »Funktionen« erfüllen Storys?
Prodesse, delectare, movere – lehren, erfreuen und rühren, das waren die klassischen Ansprüche an Erzählungen.
Darüber hinaus sollen Storys Wirklichkeit erschließen und wiedergeben, sie können Identität und Gemeinschaft stiften und Werte vermitteln.
Lisa Cron erklärt mit Bezug auf Evolutionsbiologie und Neuropsychologie in Wired for Story (2012) {*}, dass wir vermittels Geschichten Handeln in möglichen Risikosituationen simulieren und erproben, um unser tatsächliches und/oder soziales Überleben zu sichern. Storys sollen auch die Befriedigung verschaffen, etwas Neues, Bedeutsames erlebt, erfahren und gelernt zu haben. Das Auslösen von Gefühlen und das Ansprechen unserer Sinne verankert Geschichten wiederum besser in unserer Erinnerung als Fakten.
Selbstverfreilich erschöpfen sich insbesondere künstlerische Texte nicht allein in genannten Funktionen, au contraire lösen sie oftmals feste Funktionsbezüge sogar auf, um uns die Welt auf neue Weise erleben zu lassen. Dies gilt es für die Qualität unserer Storys im Hinterkopf zu behalten.
Ungeachtet dessen liefert der obige »funktionale« Blick uns nützliche Anhaltspunkte, wie Storys verbessert werden können.
Betreffs des Krimis könnten wir schlussfolgern, dass er dem Verhandeln sozialer Normen, von richtig und falsch, von akzeptabel und inakzeptabel dient, aber auch der Unterhaltung durch Spannung und wohligen Grusel, dass er aus den Elementen »Verbrechen«, »Ermittler:in«, »Täter:in«, »Spurensuche«, »Ermittlungstechnologie«, »Erzählstil«, »Moral der Geschichte« usf. besteht. Die Funktion des Verbrechens sind bspw., das Publikum zu moralischer Entrüstung zu bringen und den Wunsch zu wecken, das Verbrechen möge aufgeklärt und gesühnt werden.
Nun lässt sich der Gegenstand und seine Teile sowie deren Funktion(-en) bereits dahingehend befragen, ob sich etwas an ihnen erneuern und verbessern lässt. Ist die Figurenzeichnung der Ermittlerin nur ein abgeschmacktes Klischee? Ist das verhandelte Thema noch immer relevant? Ist die verhandelte Moral noch zeitgemäß? Wichtige Fragen sind auch: Lässt sich etwas bedeutungsvoll weglassen? Lassen sich andere Schwerpunkte setzen? Was fehlt?
Radikale Innovation erfordert radikales Infragestellen des Status Quo.
Bei unserer Infragestellung ist es daher hilfreich, so abstrakt wie möglich vorzugehen. Denn: Wer fragt, wie sich der die Straße entlangschnurrende Jaguar XK150 verbessern lässt, schränkt sich bereits selbst ein und legt sich fest. Wer fragt, wie wir reisen möchten, wozu Fahrzeuge dienen und warum wir reisen, eröffnet sich von Anfang an größere Spielräume.

[Mittels KI erstelltes Bild: Pinker Jaguar XK150]
Dieses Investigieren und Infragestellen führt bereits vom, erstens: Status Quo weg zum, zweitens:
- 2. Kontext
Mit „Kontext“ meine ich die uns umgebende Wirklichkeit mitsamt aufkommenden bestimmenden »Megatrends«.
Es wird nämlich oft vergessen in der Genregeschichte des Krimis, dass die Wirklichkeit von Anfang an maßgeblichen Einfluss auf dessen Entstehung hatte. Zugegeben, die journalistisch zugespitzte Wirklichkeit.
Denn schon ab 1773 veröffentlichte das Gefängnis Newgate, London, den sogenannten Newgate Calendar {*}, in dem Verbrechen, Geständnisse und Hinrichtungen geschildert wurden um abzuschrecken und hiermit ebenso, nun ja, auch zu unterhalten. Der Newgate Calender funktionierte also ganz ähnlich wie aktuelle True-Crime-Formate. So wurde er zu einem Einfluss für das erst im darauf folgenden Jahrhundert entstehende Krimigenre.
Auch heute noch sollte die Wirklichkeit jedweder Storymanufaktur zur Inspiration dienen, denn oftmals ist sie stranger than fiction, will sagen: voll von Charakteren und überraschenden Wendungen, die sich noch die genialste Storytellerin nicht ausdenken könnte. Es lohnt also stets, sich in die Recherche zu stürzen.
Im Abgleich mit zeitgenössischer Wirklichkeit wird angesichts unseres – in Elemente zerlegten, auf seine Funktionen hin befragten – zu innovierenden Gegenstands überdies rasch einsichtig, ob er seine Funktionen noch befriedigend erfüllt.
Gibt es beispielsweise eine neue Art des Verbrechens? Eine neue Ermittlungstechnologie respektive neue Methoden? Einen neuen Ermittler:innen- oder Täter:innentypus?
Zum Kontext gehört natürlich auch: das Publikum. Verändern wir unsere Vorstellung von unserer:m Adressaten:in, ändern sich zwangsläufig auch unsere Stoff- und Themenwahl, unsere Plotgestaltung und v.a. auch die Tonalität und der Stil.
Der Kontext liefert überdies gegebenenfalls auch neue, relevante Themen, sogar Anregungen für neue Funktionen des Erzählens. Um dies zu verstehen, lohnt der Blick in die Vergangenheit des Genres.
Mentalitätswandel als Innovationsquelle
Das Krimigenre stammt zum einen vom sogenannten analytischen Drama (auch Entdeckungs- oder Enthüllungsdrama (im Gegensatz zum Ziel- oder Entfaltungsdrama)) ab. Das bekannteste Beispiel für ein ebensolches ist König Ödipus {*}von Euripides, zirka 425-429 v. Chr.

[Jean Auguste Dominique Ingres: Ödipus löst das Rätsel der Sphinx (1808-1825)]
Das analytische Drama führt uns die gefährlichen oder tragischen Folgen vor Augen, die ein Ereignis der Vorgeschichte hat, das also selbst nicht auf der Bühne gezeigt wird. Stattdessen wird dieses Ereignis erst im Voranschreiten der Handlung rückwirkend enthüllt – wie eben das Verbrechen und der Tathergang im Krimi.
Der journalistische Einfluss des Newgate Calendars wurde bereits genannt.
Des Weiteren entsprang das Genre aus der Gothic Novel des 18. und 19. Jahrhunderts, aus Schauergeschichten der sogenannten »Schwarzen Romantik«, in denen das Unheimliche übernatürliche oder unerklärliche Ursachen hatte.
Bereits bei der frühen Entwicklung des Krimigenres zeigt sich, wie Innovation durch den Kontext eines »Megatrends«, eines übergreifenden Mentalitätswandels, unvermeidlich wird: Im Zuge von Aufklärung, Rationalisierung und dem Erfolg empirischer Naturwissenschaft war es nur eine Frage der Zeit, bis ein:e Ermittler:in auf der Bildfläche erscheinen würde, der:die sich wissenschaftlicher Methoden bedient.
Vorhang auf für Edgar Allan Poes Auguste Dupin, der antritt, die abergläubische Annahme zu widerlegen, etwas Übernatürliches habe zu dem schaurigen Doppelmord in der Rue Morgue (1841) {*} geführt, und um aufzudecken, dass der Hergang des schrecklichen Verbrechens, wenngleich außergewöhnlich, doch rational erklärlich ist.
Im Gefolge Dupins wurde dem Schaurigen und Unerklärlichen durch rational konkludierende Ermittler:innen zuletzt stets der Garaus gemacht, der berühmteste von ihnen ist zweifelsohne Sherlock Holmes.

[Denkmal für Holmes auf der Bakerstreet, fotografiert auf meiner letzten Londonreise]
Im Zuge des »Megatrends« der Verwissenschaftlichung des Lebens erscheint nachvollziehbar, dass sich – in der ersten Blütezeit des Genres im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts – Cosy Crimes, »Kuschelkrimis« entwickelten, die zwar hier und da spannend und schaurig, doch insgesamt nicht zu bedrohlich, sondern amüsant, elegant und unterhaltsam daherkamen. Miss Marple und Hercule Poirot, beides Schöpfungen Agatha Christies, sind die wohl bekanntesten Held:innen dieses Subgenres.
Im Zuge zweier Weltkriege erschienen aber Krimis, in denen fidele Detektive:innen heitere Gewaltverbrechen aufklären und die auf diese Weise die in Unordnung geratene heile Welt wiederherstellen, schlicht démodé. Es entstand die Hardboiled Detective Story, in denen desillusionierte Einzelgänger wie Sam Spade und Philip Marlowe nicht selten scheiterten.
Die Lektion der Genregeschichte: Wollen wir innovieren, so müssen wir den Status Quo unseres Gegenstands auch heute dahingehend befragen, ob und, falls ja, wie zeitgenössische Themen, Mega- und Gegentrends ihren Niederschlag finden und ob die gewählten erzählerischen Elemente ihnen noch gerecht werden.
Sind die gewählten Ermittlungsmethoden noch aktuell oder längst passé? Sind die Figuren tauglich auch als Repräsentant:innen eines heute wichtigen, relevanten Milieus? Wie steht es um die Ursache-Wirkungs-Logik der Detektion im Krimigenre? Ist es nicht häufig »Kommissar Zufall«, der eine wichtige Rolle spielt? Wie ist das Verbrechen motiviert? Was sagt dies über die Gesellschaft aus, in der wir leben? Was sind virulente Widersprüche und Konfliktlinien innerhalb der heutigen Welt?
Im Anthropozän macht es durchaus Sinn, Öko-Verbrechen aufzuklären oder im Milieu radikaler Umweltschützer:innen – oder Klimawandel-Leugner:innen – zu ermitteln. Im Zeitalter von Predictive Policing erscheint sinnvoll, vermittels algorithmischer Computer-Empfehlungen zu fahnden – und diese Verfahren zugleich kritisch zu beleuchten. In pluralistischen Gesellschaften erscheint angezeigt, dass die Dramatis Personae bunt orchestriert sind, sei es bezüglich ihrer sexuellen Orientierung, Migrationsgeschichte und/oder Subkultur, um nur einige Beispiele zu nennen.
Obige drei Quellen des Genres – analytisches Drama, Journalismus und Schwarze Romantik – lassen sich beschränken und/oder erweitern: Welche ehernen Regeln des Genres lassen sich genüsslich brechen? Was, wenn das Verbrechen ungelöst bliebe? Was, wenn wir die Vorgeschichte, nicht aber die Aufklärung der Tat zeigen? Was, wenn Ermittler:in und Täter:in ein- und die:derselbe sind? Oder: Wie sähe ein Krimi-Operetten-Hybrid aus? Eine Krimi-RomCom? Ein Fantasy-Krimi?
Mit der Betonung des Kontexts möchte ich nicht einer beliebigen Zeitgeistigkeit oder gar einer Mode das Wort reden – Mode ist nun einmal das Gegenteil von Stil. Au contraire möchte ich uns ermuntern, ganz wir selbst zu sein. Somit kommen wir zu dem dritten Punkt:
- 3. Wir selbst
Jede Story entwirft ein Bild der Welt. Hierbei ist sie auf ihre eigene Weise zugleich wahrhaftig und verlogen: Verlogen, weil sie notwendigerweise verdichtet, zuspitzt und verkürzt. Wahrhaftig ist sie, weil sie eine bestimmte Weltsicht und ja, meist auch eine »Moral der Geschichte« vermittelt, das berühmte Fabula docet, das oft universell, zumindest aber nachvollziehbar daherkommt.
In Wahrheit liegt es aber an uns, Schicksal zu spielen und festzulegen, welches Handeln im erdachten Kosmos lohnt und welches nicht, ob es so etwas wie Sinn gibt oder ob Absurdität ihr kaltes oder anarchisches, gar amüsantes Antlitz zeigt.
Der Einfluss des Kontexts berührt ebendiese Wahrhaftigkeit: In einer von naturwissenschaftlicher Vernunft geprägten Welt wurde es zusehends »unwahr«, das Unheimliche als unerklärlich zu erzählen. Dieser Widerspruch war einem sensiblen Zeitgenossen, Edgar Allan Poe, aufgefallen, er empfand ein Störgefühl, sein innovationslustiges Problembewusstsein erwachte.
Wenn wir erzählen, erzählen wir immer auch von uns selbst. Unser Welt- und Menschenbild schreibt sich unweigerlich in unsere Erzählung ein – und das ist auch genau richtig so. Wir sind aufgerufen, unsere Haltung zum gewählten Stoff zu finden und diesen gemäß ebendieser Attitüde zu entwickeln. Natürlich bedingt unsere Haltung zu unserem Stoff auch den Stil, der gleichsam das Gewand ist, in den sich unsere Story kleidet – es gilt, unsere eigene »Stimme« zu finden.
Daher ist bei unserer kritischen Inaugenscheinnahme von Elementen und Funktionen des Genres unsere Haltung unsere Richtschnur: Was verabscheuen wir? Was möchten wir rühmen? Wovor möchten wir warnen? Was empfehlen?
Dieser »Imperativ«, eine Haltung und Stimme zu finden, soll Euch indes keineswegs lähmen, könnte die eine oder der andere hier doch meinen, eine fertig ausbuchstabierte Haltung vorweisen zu müssen, bevor das Geschichtenentwickeln überhaupt erst startet.
Um lähmenden Writer’s Blocks vorzubeugen, sei hiermit nachdrücklich betont, dass sich eine originäre Perspektive auf den Stoff oftmals erst im Entwicklungsprozess ergibt und das beinahe zwangsläufig.
Mein Lieblings-Philosophenwitz:
»Wenn zwei Philosophen einer Meinung sind, ist einer von ihnen kein Philosoph.«
Will sagen: Wer sich akribisch, skrupulös und genau mit Frage- und Problemstellungen und Haltungsfragen beschäftigt, wird wohl unweigerlich zu einer eigenen Attitüde finden.
Solltet Ihr nichtsdestotrotz unsicher sein – bleibt unverzagt!
Denn: Künstlerische Freiheit erlaubt, Attitüden wie Kleidungsstücke auszuprobieren, sie auch von Geschichte zu Geschichte zu wechseln.
Nicht zu vergessen sei aber auch, dass es insbesondere künstlerischen Erzählungen gut zu Gesicht steht, auch »geheimnisvoll« zu sein. Entsprechend müssen Schöpfer:innen nicht »wissen«, warum sie ein Thema fasziniert, sie eine bestimmte Mordmethode bevorzugen, warum sie ein bestimmtes Verbrechen reizt, sie das eine Opfer dem anderen vorziehen.
[Folgende Infografik zeigt auf einen Blick, wo anspornende Probleme zu finden sind zwischen den innovationsrelevanten Einflusssphären: ]

- 4. Zukunft kreieren: Was wäre, wenn …
Ist alles beisammen – 1. Status-Quo-Verständnis des Gegenstands, seiner Elemente und Funktionen und wie diese vor Hintergrund des 2. Kontexts unzeitgemäß, dysfunktional oder fad geworden sind und 3. eine Attitüde –, kann und soll es wild werden, skurril, nachgerade übertrieben, gar unrealistisch.
Das Design Thinking empfiehlt in einer bestimmten Phase des Innovationsprozesses, herausfordernde stretch goals zu formulieren, die kümmerliche Zielvorgaben meilenweit überschreiten und jedweden Rahmen sprengen.
Stretch goals spornen Euch dazu an, das Unmögliche zu denken, denn nur das (zunächst und scheinbar) Unmögliche ist radikal innovativ. Stretch goals ermutigen, auf Denkverbote zu pfeifen und Wagnisse einzugehen.
Indem sie einem untrüglichen Seismographen folgen – Eurer Begeisterung –, helfen stretch goals Euch dabei, dark horses zutage zu fördern. Der Begriff aus dem Pferderennen meint Außenseiter, die überraschend das Rennen gewinnen, obzwar niemand mit ihnen gerechnet hatte. Dark horses meinen allzu leicht zu übersehende Chancen und unentdeckte Nischen – denn nur das Noch-nie-Dagewesene ist disruptiv-innovativ.
Was wäre eine völlig neue Aussage zum gewählten Stoff und Thema? Was wäre das empörendste Verbrechen dieses Zeitalters? Was könnte der Krimi der Zukunft sein? Wie bündelt meine Geschichte das Erfahrungswissen einer ganzen Generation? Wie wird mein:e Ermittler:in zum Prototypen eines völlig neuen Genres? Welche Genres lassen sich verblüffend und neu kombinieren?
Schön scheitern – Masse führt zu Klasse
Ungeachtet des im stretch goal formulierten Anspruchs gilt es, eine schiere Masse aberwitziger Ideen zu kreieren.
Der Psychologieprofessor Dean Keith Simonton erklärt anhand der sogenannten Equal Odds Rule, dass schöpferische Qualität aus Quantität resultiert, was nichts weniger meint als: Je mehr Ideen Ihr generiert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr hervorragende Ideen entwickelt. Deshalb sei empfohlen, zunächst jegliche Idee willkommen zu heißen.
Zur tabulosen Ideengenerierung taugt‘s, wenn Ihr eine gute Prise Wahnsinn einstreut, indem Ihr absichtlich irrwitzige Zielsetzungen und Fragestellungen verfolgt: Wie baue ich den schlechtesten Krimi der Welt? Wie würde der:die dümmste Täter:in vorgehen? Was wäre, wenn der:die Detektiv:in sich irrationaler Methoden bediente? Was, wenn mein Kater Ambrosius der Täter wäre?
Erst nachdem eine schiere Masse Ideen – aufbauend auf unserer Vorarbeit in Schritt 1, 2 und 3 – entwickelt wurde, verwerfen wir sie oder verfolgen sie weiter, sortieren und kuratieren sie, unterwerfen sie argusäugiger Qualitätskontrolle: Ist das Thema tiefgründig und in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit dennoch dicht dargestellt? Gibt es eine interessante Dialektik von Form und Inhalt? Trifft unsere Story neue Aussagen über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit? Ist sie relevant? Berührt sie? Inspiriert sie?
Habt Ihr den 1. Status Quo und den 2. zeitgenössischen Kontext sensibel analysiert, Probleme erkannt und eine 3. Haltung und 4. Vision gefunden, danach eine Menge Innovationsideen erdacht, sie verworfen, poliert, kuratiert und sortiert, dann sollte Euren bahnbrechenden Innovationen im Krimigenre – oder anderswo – nichts mehr im Wege stehen.
Ich wünsche Euch viel Erfolg beim Ausprobieren der hier angeregten schonologischen Innovationsmethoden. Folgt Eurer Begeisterung und lasst Euch vom Neuen und Besseren überraschen.
Euer

[Postskriptum: Über das obige Beitragsbild: Um das Krimi-Genre zu erkunden, zwirbelte ich mir einen Hercule Poirot-Moustache und begab mich zum Kriminalhaus in Hillesheim (Vulkaneifel, Rheinland-Pfalz) und orderte mir zur Lektüre einen flambierten Plumpudding im „Café Sherlock“.]

